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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2019-05-24
| [This text should be read in deutsch]
Widerstände in der Kindheit
Mutter hatte schwarzes Haar und blaue Augen und eine weiße Haut. Ihre Schwester Elfi erzählte bei Mutters Beerdigung, dass diese Schwester, „Sester Eni“, die blauesten Augen und das schwärzeste Haar im Dorf hatte. „Ja, wisset, ihre Augen waren blau wie das Meer … und bei den Horas* im Dorf waren ihre Augen anders als unsere. Ich war klein und wunderte mich …“ Ich sah zu Tante Elfi und Tante Frieda und zu den Sachsen, die brav ihren Braten an dem langen Tisch in dem kleinen Restaurant verzehrten, und alle hatten grüne oder braune Augen, aber keine blauen. Ihr Bruder Fredi hatte blaue, aber die waren schon müde von den vielen Wegen, die sie gesehen hatten. Dann fiel mir auf, dass Mutters Augen blau waren. Ich sah sie grau, und wie lange ihre Haare, immer in Haarspangen fixiert, waren, sah ich selten, nur wenn sie sie samstags nach einer komplizierten Prozedur mit mehreren Waschschüsseln wusch und kämmte. Mutter ließ ihre Haare von 1947 bis zu ihrem Tode nicht schneiden. „Warum gehst du nicht zur Friseuse“, fragte ich, als ich klein war und mir wünschte, dass Mutter in der Schule mit diesen künstlichen Dauerwellen auftauche, die die Frauen aus unserem Umfeld hatten. Zu jener Zeit trugen die eleganten Frauen einen Pony-Schnitt oder die Haare in Locken wie Krautwickeln, was dann wie eine Art Krone oder ein kleineres oder größeres Nest aussah. „Wie könnte ich mir die Haare schneiden, wo ich mich doch so sehr freute, dass sie nach dem Unfall, den ich überlebt habe, wieder gewachsen sind. Und eine Frau ohne langes Haar ist keine Frau.“ 1946 kommt Ana Theiss mit einem speziellen Dokument, das ihr die Überquerung der Berge erlaubte, nach Bukarest. Ein schon vergilbtes Papier dokumentiert, dass sie der sächsischen Minderheit angehörte, aber Bürger der Rumänischen Volksrepublik war. Dieses Blatt war, mehrmals gefaltet, andächtig zwischen den Deckeln einer Bibel verstaut, wo ich es fand. Ja, so dachten die Mütter in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Eine Frau ohne langes Haar, ohne plissierten Rock und einer Handtasche in der rechten Hand war keine Frau. Dann folgten ausgeschnittene Schuhe, Taschentücher und Schärpen, winzig kleine Taschentücher mit Spitzen in der Rocktasche, gepunktete Sommerröcke, ein Schirm, ein immer bereiter Reisesack aus Kunststofffäden, ein Nylonkopftuch gegen den Regen, feine Halbschuhe. Ich glaube, nach dem Krieg war es im Dorf Marienburg* nicht gut. Mutter erzählte nie von ihrer Jugend, wie es heute üblich ist. Wenn ich sie nach ihrer Kindheit fragte, sah sie mich an und sagte: „Wir reden drüber, wenn du erwachsen bist.“ Ich nehme an, dass es viele traurige Vorfälle gegeben haben muss, die ein Kind nicht verstehen konnte. „Aber was machtest du nach dem Schulunterricht“, fragte ich weiter „Ach, ja, eines Tages dachte ich mir, ich habe doch auch das Recht mit der Kutsche spazieren zu fahren.“ „Welche Kutsche?“ „Ich arbeitete nach der zweiten Klasse im Hof des Dorfpfarrers, und der fuhr sonntags mit seinen Kindern, also meinen Klassenkolleginnen, zur Kirche, und mir, ich war, glaube ich, neun Jahre alt, sagte er, ich solle den Hof kehren und den Stall ausmisten. Ich wollte nicht, aber er drohte mir, mich durchfallen zu lassen, wenn ich sonntags seine angeordneten Arbeiten nicht verrichte. Auch wenn er mir mit dem Wiederholen der Klasse drohte, habe ich den Stall nicht gereinigt, sondern die Kutsche gerufen, im Hof Tulpen geschnitten, um sie zu verkaufen und mir in der Stadt endlich wie die anderen Kinder Bonbons kaufen zu können. Ich war mir sicher, dass ich bis zum Ende des Gottesdienstes zurück sein werde.“ „Was für Bonbons?“ „Gefüllte Bonbons, alle Kinder aßen gefüllte Bonbons und ich hatte noch keinen einzigen gekostet.“ Die waren rosa und klebrig und rochen nach Rosen, wie jetzt die gefüllten russischen Bonbons. „Und für ein paar gefüllte Bonbons bist du mit den Tulpen aus des Pfarrers Garten in seiner Kutsche bis Schäßburg* gefahren?“ „Ja, sie waren doch in der Kirche, wir arbeiteten die ganze Woche, während die Pfarrerstöchter nichts taten und wir Dorfkinder sie bedienen mussten.“ „Und ist es dir gelungen?“ „Ja, ich habe die Tulpen verkauft … und mir gefüllte Bonbons gekauft, aber mir wurde übel und ich musste mich übergeben. Als der Pfarrer bemerkte, dass er weder Tulpen im Hof noch einen ausgemisteten Stall hatte, beschwerte er sich bei Mutter, und die hat sich sehr für mich geschämt.“ Das war Mutters Geschichte mit den gefüllten Bonbons. Wenn sie sie sah, nahm sie eine, roch ein wenig daran und legte sie zurück. „Die gefüllten Bonbons von heute haben keinen so starken Rosengeruch mehr und sind auch nicht mehr so klebrig“, sagte Mutter. Und immer wenn ich von diesen Bonbons kaufte, wusste ich, dass sie mir erzählen wird. Heute bedaure ich es, nicht öfter davon gekauft zu haben, um so mehr von der verschwundenen Welt des Dorfes zu erfahren, in dem einige Kinder gefüllte Bonbons aßen und andere nicht. Der Pfarrer hielt Wort. Mutter schaffte den Übertritt von der siebenten in die achte Klasse nicht, was sie zu der oft geäußerten Schlussfolgerung führte: „Die Pfarrer sind nicht Gott, sie sind Menschen, so viel.“ [aus dem Rumänischen von Anton Potche] *Worterklärungen - Hora (rum.: horă) = rumänischer Gemeinschaftstanz, wird oft im Kreis getanzt, mäßiger Rhythmus - Marienburg (rum.: Feldioara) = Ortschaft im Kreis Kronstadt / Brașov - Schäßburg (rum.: Sighișoara) = Stadt im Kreis Mureș |
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