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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2011-12-04
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Ich glaube nicht, dass ich den Moment genau benennen kann. Vage erinnere ich mich an den Kindergarten, ich hatte einige jüdische Spielgefährten. Was es hieß, Jude zu sein, wusste ich nicht, sondern hörte dieses Wort nur ab und zu von den Eltern, verstand aber seine Bedeutung nicht.
Ich war Einzelkind, die Eltern Ärzte, die Großmutter mütterlicherseits hat sich um mich gekümmert. Schon mit drei Jahren habe ich lesen gelernt, mit vier konnte ich schreiben und Zeitung lesen, rezitierte El Zorab und kannte die Namen der Staatschefs. Dann nahmen sie mir eine Französischprofessorin. Warum musste ich eigentlich eine andere Sprache als Rumänisch lernen? Wir lebten in einer reinen Armut, wohnten bis zu meinem fünften Lebensjahr in einem kleinen Gässchen, Şelari*, danach landeten wir nach einer Kombination, die man Wohnungswechsel plus Geld nannte, im Wohnblock Spicul, neben dem Cişmigiu-Friedhof*. Meine Eltern, aber besonders die Großmutter, wollten unbedingt, dass ich der beste Schüler werde. Also musste ich viel Literatur lesen, schon in den ersten Schuljahren Mathematikaufgaben lösen, mich dem Sport widmen, Geige spielen. „Er muss besser als andere sein“, sagte mein Vater, „sonst wird er immer zu leiden haben“. Im Haus sprach man rumänisch, in einer literarischen Sprache, angenehm, aber Großmutter hatte einen merkwürdigen Akzent. Manchmal wurde bei Verwandtenbesuchen aus der Moldau in einer fremden Sprache gesprochen, die in meinen Ohren sehr unangenehm klang; es war Jiddisch, eine Art verstümmeltes Deutsch. Ich habe erfahren, dass die Familie aus Dorohoi, Ştefăneşti*, Hertza stammte, sie waren Moldauer, vielleicht sprach Großmutter darum ein etwas verdorbenes Rumänisch, mit aufgeweichten Vokalen und mir fremden Wörtern. „Du bist Jude und musst das wissen“, sagte mir Großmutter eines Tages. Das Wort „Jude“ empörte mich. Ich ging wie alle um mich herum zur Schule, man predigte uns von Gleichheit, Sozialismus, ich rezitierte „Der Tod des Schäfleins“, Der dritte Brief“, „Der Partei“… Alles, was ich mir wünschte, war, wie andere zu sein; ich fühlte mich als Rumäne, aber man lud mir brüsk eine Last auf, deren Sinn ich nicht verstand. Sie schien mir eine unnötige Mahnung, sogar schädlich, ich spazierte über den Cişmigiu, blieb in der Schriftstellerallee stehen, nicht weit vom Fankreis, bewunderte Eminescus Statue, „Der Abendstern“ ging mir durch den Kopf… Ich, Jude? Gleich wie alle anderen Zurückgekehrt von meinem täglichen Herumvagabundieren durch den Cişmigiu meiner Kindheit, habe ich den Meinen vorgehalten: „Ich bin kein Jude, bin in Bukarest geboren, also bin ich Rumäne, Ihr seid Juden, weil Ihr aus Dorohoi gekommen seid, eine weltvergessene Region im Norden der Moldau.“ Mein Einwurf hat allgemeines Gelächter hervorgerufen und in der Familie wurde er zur Anekdote. Schnell habe ich begriffen, dass Jude etwas anderes bedeutet, aber wie harmonisierte dieses „anders“ mit „gleich wie alle“? Die Eltern waren Atheisten, aber die Großmutter hielt auf Tradition, auf die „koschere“ Kost, die jüdischen Feiertage; so erfuhr ich, dass sie in die Synagoge ging, eine Art Kirche der Juden, aber ich wusste aus der Schule, dass es keinen Gott gibt. Sollte Großmuter von dieser so bekannten Tatsache nichts gehört haben? Ich hatte sie sehr gern, aber dachte mir, sie wäre ein wenig hinter den Ereignissen zurückgeblieben, vielleicht weil sie provinziell war und sich nicht an die Bukarester Zivilisation angepasst hatte. 1957 wurde mein Vater, Militärarzt, aus der Partei ausgeschlossen. Ich habe erfahren, dass man ihm eine ungesunde Abstammung angekreidet hatte (er war Händlersohn), dass er in der Kindheit eine zionistische Organisation, „Hashomer Hatzair“, in Dorohoi besucht hatte, und ungemütlich wurde, als er in Parteisitzungen opponierte und sich weigerte, verschiedene Entscheidungen mitzutragen. Er musste in der Armee kündigen, blieb ein Jahr ohne Arbeit, fand dann eine Beschäftigung in der Provinz, in Balaci*, Ghergani*, Câmpina, und wurde Pendler. 1958 hat die Familie einen Ausreiseantrag nach Israel eingereicht. Von dem Epos meines Vaters, der an den Kommunismus glaubte, an die Utopie einer auf Gleichheit basierenden Gesellschaft, werde ich bei anderer Gelegenheit erzählen. Mutter, Universitätsassistentin am Panduri-Spital, wurde an ein anderes, entferntes Krankenhaus versetzt. Damals hörte ich zum ersten Mal das Wort „Antisemit“. Es war ohne Zweifel etwas Schlechtes, ich spürte es im Ton der Meinen, aber erst später erschloss sich mir seine Bedeutung. In den 60er Jahren wurde mir klar, dass meine Familie nach Israel auswandern wollte, sie hatten „die Akten eingereicht“, aber die „Genehmigung“ wurde ihnen verwehrt. Obwohl sie Verwandte in Israel hatten, schienen sie sich mit dem Gedanke versöhnt zu haben, in Rumänien zu bleiben, und ich wurde ermuntert, je besser zu lernen, mich in wissenschaftlichen und kulturellen Kreisen zu engagieren, so zu sein „wie alle anderen“. Ich glaube, in der Vierten gewesen zu sein, als mir bewusst wurde, dass mein Name meine Abstammung verrät, auch wenn ich alles tat, um sie zu verbergen. Ein Junge, den ich zu meinen guten Kollegen zählte, fragte mich eines Tages: „Bist du Jude? Du heißt Solomon!“ Ich habe vehement verneint, ja sogar eine relativierende Geschichte erfunden, laut der mein Vater den Namen aus „Solomonescu“ abgeleitet habe. Die Rumänisierung der Namen war mir bekannt, viele Florescu, Herescu und Ionescu waren Juden. Warum sollte es nicht andersherum auch gehen? Ich hütete ein Geheimnis, das jeder kannte: Ich war Jude. Die Kinder von Freunden der Eltern gingen in die Gemeinschaft, aber ich verweigerte meine jüdische Identität, zog den Pionierpalast vor, dann die Kulturhäuser, den Theaterkreis… Ich lebte mit der Illusion, mir die Volkszugehörigkeit selbst wählen zu können, dass ich Rumäne bin und Rumäne bleibe, denn das hängt nur von mir ab. Das vergessene Transnistrien Als ich mein dramatisches Talent entdeckte, nahm ich an einem Radiowettbewerb teil, für Kinderprogramme. Den anderen beim Rezitieren zuhörend, hatte ich keine Bedenken, nicht akzeptiert zu werden, aber vergebens wartete ich, gerufen zu werden; ich wurde benachrichtigt, dass meine Hoffnungen sich nicht erfüllen werden. Ich erinnere mich, geweint zu haben, und meine Mutter hat eine gewesene Schulkollegin angerufen, die beim Radio arbeitete, um von der zu erfahren, dass mein Name mich disqualifiziert habe. Auf das Drängen der Mutter konnte sie aber doch ein „Wort“ für mich einlegen. Einige Jahre war ich der einzige „Solomon“ in den Sendungen „Fröhlicher Pioniergruß“, „Radio Prichindel“ und anderen. Ich kehrte meine Abstammung weiterhin unter den Teppich, ja, die typisch jüdischen Namen verstörten mich sogar, ich lebte in Rumänien, woher so viele Moscovici, Bercovici und Leibovici? Und trotzdem, an meinem 13. Geburtstag entschied die Familie, Bar Mitzwa, ein jüdisches Fest, zu feiern. Ich sollte zum „Manne“ werden, aus der Tora lesen. Nur mit Mühe haben sie mich überzeugt, in eine armselige Synagoge aus der Gegend „Steinkreuz“ zur Weihe zu gehen. Aber ich habe getrickst und mit lateinischen Buchstaben neben die hebräischen geschrieben – Baruch ata Adonai, Eloheinu, Melech ha’olam…* Bei der Zeremonie haben die Eltern vor Ergriffenheit geweint, aber ich wollte nur diese Fessel je schneller loswerden und die versprochenen Geschenke entgegennehmen. Damals vernahm ich auch zum ersten Mal ein anderes Wort mit tragischer Resonanz: Transnistrien. Ich erfuhr, dass meine Großmutter und Mutter deportiert waren, zur Zeit Antonescus, in ein Konzentrationslager, dass tausende Juden von rumänischen Soldaten ermordet wurden, aus der Familie meiner Mutter nur 13 überlebten und von den Verwandten des Vaters (der in ein Arbeitslager deportiert war) nur die Hälfte. Also lebten in Rumänien vor dem Krieg noch viel mehr Leibovici und Moscovici, aber auch Solomon, Pitaru, Latzres… Meine Eltern wollten keine Ressentiments in mir erwecken, erzählten mir nicht von jenen schrecklichen Jahren. Nur Großmutter erwähnte ab und zu etwas, mit Distanz, als würde sie mir ein Filmszenario schildern, ohne affektive Teilnahme. Ich habe „Ich war Arzt in Auschwitz“ und „Das schwarze Buch“ gelesen, aber realisierte nicht, wie es möglich war, dass eine solche Tragödie passieren konnte. Aufgebracht fragte ich die Meinen, warum die Juden sich wegbringen ließen wie die Schafherden ins Schlachthaus, ohne sich zu wehren. Ich erinnere mich nicht an die Antwort; erst nach vielen Jahren, als Freiwilliger der Shoah Foundation Interviews mit Überlebenden des Holocaust führend, verstand ich, wie Schritt für Schritt sechs Millionen ermordet wurden. Aber in Rumänien? Die Rumänen sind gastfreundlich, tolerant, lächelnd, freundlich… Ich konnte verstehen, dass die Deutschen, brutal, rigide, von blindem Hass getrieben (wir sehen sie doch in Filmen) in Ungarn, Polen, der Ukraine, Holland gemordet haben, aber dass Großeltern einiger meiner Kollegen an Massenmorden beteiligt waren, konnte ich nicht nachvollziehen, bei Pogroms, oder zu den Legionären gehörten. Was konnten sie gegen die Juden haben? Die Juden haben zur Entwicklung der rumänischen Sprache und Zivilisation beigetragen, waren treue Bürger, viele von ihnen fühlten sich Rumänen – warum dann Transnistrien, Lager, Rassengesetze? Die Auferstehung eines Juden Unter den Kollegen hörte ich immer öfter Witze mit Itzig und Strull, Stereotypen des ängstlichen, dummen, geizigen, impotenten Juden. Ich wunderte mich, wieso typisch jüdische Namen dafür herhalten mussten, aber stellte fest, dass die Witze von zu Hause kamen, von Eltern; vielleicht beinhalteten sie ja einen Wahrheitskern… Eines Tages näherte sich mir ein Lyzeumskollege namens Dascãlu und sagte hasserfüllt: „Solomon, du bist Jude!“ Ich spürte zum ersten Mal, wie dieses Wort mich niederstach, meine Faust ballte sich, aber ich habe nicht reagiert, die anderen Kollegen sahen mich an, als würden sie auf meine Reaktion warten. Ich habe mit einem nicht überzeugenden „Du bist ein Idiot“ dagegengehalten. Aber den Hass in seiner Stimme habe ich bis in die Knochen gespürt. Erwartete ich Unterstützung von den anderen, war ich der ängstliche Jude aus den Witzen mit Itzig und Strull? Mit einem Faustschlag hätte ich diesen Dascãlu niedergestreckt, aber die Faust schnellte nicht vor, ich blieb versteinert und die anderen gleichgültig. Dieser „Jude” hat mich lange verfolgt, wurde ein Teil von mir. Bei einer anderen Gelegenheit, auf einer Party im Haus eines Freundes, erschien ein Priester, der die Kollegen segnete; viele haben sich verbeugt und das Kreuz geküsst. Als er sich mir näherte, lehnte ich ab, der Priester insistierte und ich sagte, wahrscheinlich damals zum ersten Mal, mit zitternder aber deutlicher Stimme: „Ich bin Jude.” Ich wusste, dass ich merkwürdig beäugt wurde, hatte aber keinen Ausweg. Was verleitete mich eigentlich zu diesem Widerstand, der Gedanke, das Kreuz zu küssen, ohne Christ zu sein, oder meine Gleichgültigkeit gegenüber der Religion? Letztendlich war der Gekreuzigte doch selbst Jude und ich war Atheist; also was hätte es mir ausgemacht, zwei intersektierende Linien zu küssen? Die Antwort bekam ich kurze Zeit danach, als ich von einigen Freunden zur „Auferstehung“ in die Heilige-Constantin-Kirche eingeladen wurde. Zum ersten Mal besuchte ich einen christlichen Gottesdienst, es trieb mich die Neugierde und man sagte mir, ich werde begeistert sein. Wir waren eine Gruppe Kollegen, einige Juden, andere gemischt… Als wir uns der Kirche näherten, wandte sich ein um ein Jahr älterer Junge, Dănciulescu*, mir zu und fragte in drohendem Ton: „Was suchst du hier, Jude? Ihr habt den Sohn Gottes ermordet!“ Ich ging nicht weg, ambitioniert, der Auferstehung beizuwohnen. Absurd die Szene: der Jude Vlad Solomon war bei der Auferstehung des Juden Jesus Christus zugegen. - Fortsetzung folgt – Erläuterungen * - Şelari = lese Schelar - Cişmigiu = lese Tschischmidschiu; gi = dʒ (phonetische Transkription) - Ştefăneşti = Schtefănescht; ă = ə (phonetische Transkription) wie in legen, Atem, Leser - Balaci = lese Balatsch - Ghergani = lese Gergan - Câmpina; lese â wie einen Laut zwischen e und i (Es ist mir leider kein deutsches Beispiel bekannt.) - Baruch ata Adonai, Eloheinu, Melech ha-olam… (jiddisch) = Gesegnet seist du, Herr, unser Gott, König des Universums… - Dãnciulescu = lese Dãntschiulescu [aus dem Rumänischen von Anton Potche] |
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