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Vom irdischen zum himmlischen Vater -Franz Kafka und die Gotteserkenntnis-
essay [ ]
'Basierend auf den Schriften Max Brods über Franz Kafka'

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by [BettinaKatalin ]

2012-11-04  | [This text should be read in deutsch]    | 



Wie sah er aus, der Mensch Franz Kafka? Groß war er. Auf frühen Photographien wirkt er immer ein wenig unbeholfen, ganz so, als müsse er erst noch in seinen Körper, wie in ein zu großes Kleidungsstück, hineinwachsen. Sein Lächeln ist spitzbübisch. Bis zum Tode wird das Gesicht etwas eigenartig Junggebliebenes bewahren. Doch ist bereits im Knabengesicht des fünfjährigen Kafka dem Ernst und der Strenge einer alten Seele zu begegnen. Seine Augen waren nicht, wie oftmals angenommen, braun, sondern grau. Regengrau. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu den tiefschwarzen Haaren und der dunklen Haut. Von seinem Jugendfreund, dem Dichter und Schriftsteller Franz Werfel, wird Kafka als 'Herabgesandter' bezeichnet. Als einen 'Boten des Königs', der durch die Epoche und die Umstände dazu veranlaßt wurde, sein jenseitiges Wissen und seine unaussprechliche Erfahrung in dichterische Gleichnisse zu gießen. In einer anderen Zeit, unter anderen Umständen, wäre Kafka vielleicht Priester geworden.
Am 3.Juli 1883 wird Franz Kafka als Kind deutsch sprechender Prager Juden geboren. Noch gehört die Stadt an der Moldau in das Habsburger Vielvölkerreich Österreich-Ungarn. Im anbrechenden 20. Jahrhundert erleben Kunst und Kultur eine zyklische Hochphase, doch die Zukunft wirft bereits drohend ihren Schatten. Und es wird sich bewahrheiten, daß in außergewöhnlichen Zeiten außergewöhnliche Menschen geboren werden. Franz Kafka ist einer von jenen. Und als außerhalb des gewohnt Gewöhnlichen müssen wir ihm und seinem Werk begegnen.
In dem Essay-Band 'Prüfungen' greift Klaus Mann Werfels Bild vom Herabgesandten und Königsboten auf, und wir erblicken Kafka in der Gestalt eines dunklen Herolds. "Ein Wesen mit schwarzem Gefieder, welches nicht rauscht, sondern klirrt wie ein Panzer; eine Art von fürstlichem Vogel, der ein Menschengesicht hat, ein schauerlich erstarrtes Gesicht, dessen klagend aufgerissener Mund, trostloser Blick und umschattete Stirn nur zu deutlich uns zeigen, was hier alles durchgelitten wurde."
Bei Kafka geht es stets um die Seele. Nacht, das ist die Zeit der Seele. Kafka schreibt ausschließlich nachts. Tagsüber arbeitet der promovierte Jurist in der Arbeiter-Unfall-Versicherung. In einem Absagebrief, an seinen engsten Freund, Max Brod, beschreibt er seine Tätigkeit in humoristischer Form: "Denn was ich zu tun habe! Es fallen - von meinen übrigen Arbeiten abgesehen- wie betrunken Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein. Alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinaufgibt, das stürzt hinunter, was man hinuntergibt, darüber stürzt man selbst, und man bekommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppen werfen. Montag habe ich vielleicht das Ärgste hinter mir ....."
Nur selten soll es ihm gelingen, seiner Beamtentätigkeit etwas Humorvolles abzugewinnen. Immer unerträglicher wird ihm diese Tätigkeit werden. So unerträglich wie alles, was ihn vom Schreibtisch, von Papier und Stift, von seinen Gedanken, seinen Eingebungen und seiner tief empfundenen, wahren Bestimmung, dem Schreiben, fortzerrt und in die Welt, den Alltag, hineinwirft. Dennoch steht bereits für den jungen Kafka unabänderlich fest, daß Brotberuf und Schreibkunst scharf voneinander getrennt bleiben müssen. Alles andere hätte für ihn eine Entwürdigung des dichterischen Schaffens bedeutet. "Schreiben als Form des Gebetes", so formuliert es Kafka in seinem Tagebuch. Über dem Gesamtwerk steht die delphische Maxime des "Erkenne Dein Selbst". Das Schreiben als stetige Selbstbefragung und Ort der Selbstbegegnung. Dies jedoch nicht aus Eitelkeit, Kafkas Schreiben fehlt jegliche Hybris, sondern, um sich auf dem Wege der Selbstreflexion dem Göttlichen anzunähern. Oder, wie der Dichter es selber ausdrückte: "Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein. Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts. "Kunst als Abglanz religiöser Erkenntnis, als Weg zu Gott. Und wie Max Brod feststellt: "Sieht auch der Zurückweichende den Weg, vor dem Weg weicht er ja zurück!". Dennoch stellt für Kafka Kunst niemals den eigentlichen Sinn des Daseins dar. Für ihn trägt sie eher das Amt einer Gottesmagd. Einer Entbinderin der im Menschen verborgenen Gottesgaben, der Talente. Und in eben dieser Funktion, wie Max Brod es formuliert, dient die Kunst dem religiösen Prinzip einer Sinngebung des Lebens, als Entfaltung gottgegebener guter schöpferischer Anlagen. Noch so gutes Schreiben allein genügte allerdings nach Kafkas Auffassung nicht. Es bedurfte noch anderer Bedingungen, zum Beispiel der Familiengründung, um ein vollgütiger Bürger dieser Erde zu werden. Nach seiner Auffassung ist das Schreiben, die Kunst, also niemals letztendliches Ziel, jedoch Grundvoraussetzung für das, was Kafka unter einem sinnerfüllten Leben versteht. Umso mehr leidet er, wenn, durch tägliche Pflichten, die in ihm zur Entladung drängenden Schaffenskräfte zurückgedämmt werden. Zeitlebens wird er versuchen, sowohl den irdischen Anforderungen wie auch der himmlischen Berufung gerecht zu werden und in diesem epischen Kampf immer wieder erneute Fehlschläge und hohe Kraftverluste davontragen.
Kafkas Werk ist grausam und dunkel. Es ist einem langen mühseligen Gang durch eine bleiern schwere Dunkelheit verwandt. Per aspera ad astra. Durch tiefe Nacht zu den Sternen, durch die Dunkelheit hindurch dem Licht entgegen. Die Nacht, das Unbewußte und Dunkle, fordert, Schritt um Schritt durchlaufen und vermessen zu werden. Denn nur, wenn etwas restlos durchschritten und Elle um Elle, bis in den letzten Winkel hinein, vermessen wurde, ist es vollständig bewußt gemacht und kann keinen Schatten mehr werfen. Der Schatten, steht als trennender Abgrund zwischen Gott und Mensch. Antike Mythen kleiden den Prozess der Bewußtmachung verdrängter Schattenaspekte in das Bild des Abstieges in die Unterwelt. Bei diesem Abstieg verhält es sich so, daß, auf herrlich paradoxe Weise, der Hinabsteigende sich mit jedem Schritt in die Tiefe in Wahrheit einen weiteren Schritt hinauf, dem Göttlichen und Lichten entgegen bewegt.
Die tiefe Schwärze, die uns im Werke Kafkas entgegentritt, stellt die Dunkelheit dar, die ein Mensch erfährt, dem es immer wieder, für Momente, gegeben ist, einen Blick hinter den schweren samtenen Vorhang, der schützend das Heilige verbirgt, zu erhaschen und ein größeres, reineres, helleres Licht schauen zu dürfen. So selbstvergessen wie ein Kind beim Spiele schaut er für einen Augenblick reine Ewigkeit. Denn, wo immer der Mensch ganz selbstvergessen ist, begegnet ihm das Wesen des Ewigen. Der Vorhang schließt sich wieder und jener Mensch, der soeben noch die Erhabenheit der Höhe erfahren durfte, findet sich erneut in das irdische Tal seines gewohnten alltäglichen Lebens zurückgeworfen. Das Leben selber ist unverändert, der Mensch aber nicht. Das wiederholt erfahrene Wissen um den höheren Lichtglanz in sich tragend, wird er das irdische Licht, das ihm noch vor kurzer Zeit ausreichend hell erschienen war, immer vehementer als undurchdringbare Lichtlosigkeit wahrnehmen. Und eben von dieser Lichtlosigkeit berichtet uns Kafka. Die Schwärze, die das Auge des Menschen schaut, der aus dem strahlenden Sonnenglanz heraus, in einen künstlich beleuchteten Raum tritt.

Diese Schwärze ist Gottferne. Mit grausamer Stärke war sich Kafka des Abstandes zu Gott bewußt. Und mit ehrgeiziger Akribie und Detailversessenheit beschreibt er die überall im Irdischen spürbare Abwesenheit des Göttlichen, die saturninen Härteerfahrungen und Reifeprozesse, die der Mensch in seinem Leben durchlaufen muß. Er schont dabei weder sich selber noch den Leser. Auf letzteren hat Kafka oftmals die Wirkung eines Senkbleies, welches den Lesenden unvorhersehbar plötzlich in eine bodenlose Tiefe hinabsinken läßt. In Kafkas Schriften begegnen uns ganz ungeheuerliche Seelenbilder und monströse Ausgeburten menschlicher Urängste.
Unaufhörlich werden Richtersprüche ausgesprochen, Anklagen verlesen, Exekutionen vollzogen und dämonische Folterinstrumente, in ihrer nahezu teuflischen Raffinesse, beschrieben. Eine unheimliche und bedrohliche Atmosphäre liegt über den Geschichten und begleitet die Themen der Entfremdung, Heimatlosigkeit, Isolation, der tief empfundenen Vereinsamung und des hilflosen Ausgeliefertseins.
Und dennoch, steht sowohl über Kafkas literarischem Werk wie über seinem Leben, der unverrückbare Glaube an etwas Ewiges. "Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbaren in sich", sagt Kafka. Und fügt hinzu:
"- wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können."
Für Max Brod ist eines der Hauptthemen Kafkas: "Die ungeheuerliche Gefahr, daß wir Menschen den rechten Weg verlieren, eine Gefahr von so groteskem Übergewicht, daß uns eigentlich nur ein Akt der vorausgehenden göttlichen Gnade, der 'gratia praeveniens', dazu bringen kann, in das Gesetz, das heißt in das richtige vollendete Leben, ins Tao einzutreten. Um wie viel wahrscheinlicher dagegen ist es, daß wir den Weg verfehlen."

"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.......".
"Was ist mit mir geschehen? dachte er. Es war kein Traum. "
Unzählig sind die psychologischen Auslegungsversuche hinsichtlich Kafkas wohl bekanntester Erzählung, 'der Verwandlung'. Am häufigsten wird sie als reiner Ausdruck des Vater-Komplexes gedeutet. Vladimir Nabokov sieht als Thema der Erzählung den Existenzkampf des Künstlers in einer ihn schrittweise vernichtenden Gesellschaft von Spießern und stellt außerdem in seinem humorvollen Essay zur 'Verwandlung' fest, daß Gregor Samsa weder in einen Mistkäfer, noch, wie oft unterstellt, in eine vulgäre Küchenschabe verwandelt wurde. Um welche genaue Art von käferlichem Ungeziefer es sich letztlich handelt, kann er uns allerdings auch nicht sagen. Der Käfer ist braun, hat einen breiten, abgerundeten Rückenpanzer und besitzt ungefähr die Größe eines weder sehr kleinen, noch sehr großen Hundes. Trotz seiner äußeren Käfer-Erscheinung behält der Verwandelte seine innere Identität. Er denkt und erlebt das äußere Geschehen als Gregor Samsa. Außen Käfer, innen Mensch.
Die erste Erfahrung des sich Verwandelnden ist die der hilflosen Unbeweglichkeit.
"Arme und Hände hätte er gebraucht, statt dessen hatte er nun die vielen Beinchen, die ununterbrochen in der verschiedensten Bewegung waren und die er überdies nicht beherrschen konnte." Die Verwandlung ist kein abgeschlossener Prozess, sondern ein, durch die Erzählung sich weiter vollziehender Vorgang. Und wie Nabokov feststellt: "Erst allmählich gewinnt der Käfer die Vorherrschaft über den Menschen." Jedoch: "Gregor wird die menschliche Empfindungsfähigkeit beibehalten- Schamgefühl, Würde und einen rührenden Stolz bleiben ihm bis zum Ende erhalten."
Als ein nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen äußert sich der Verlust seiner Stimme. Man versteht seine Worte nicht mehr, obwohl sie ihm selber klarer als früher vorkommen. Wie ein unsichtbarer Beobachter des eigenen Lebens, bleibt der Erzähler im Hintergrund. Unaufgeregt und in einem angenehm ruhigen Ton, führt die Erzählstimme den Leser durch die Handlung. Ohne Werturteil schildert sie das sinnlose Treiben des Käfers, dessen Dasein nur noch durch die Befriedigung des Nahrungs- und Bewegungstriebes kleine Stücke Glück findet. Doch diese Art Glück verliert schnell ihren Geschmack für den Verwandelten. Von der Familie immer stärker isoliert und weggesperrt, hört er schließlich auf, zu essen und stirbt ausgemergelt, verwahrlost und allein. Es gibt eine weitere Erzählung Kafkas, die des Hungerkünstlers, welche ebenfalls im Hungertod des Protagonisten mündet. Dieser erklärt, zu der Begründung seines Hungerns befragt: "Ich muß hungern, weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle."
Nahrung ist Leben. Der Körper braucht Nahrung, sonst stirbt er. Zu essen ist nicht nur die Befriedigung eines menschlichen Überlebenstriebes, sondern auch ein Akt der Bejahung. Es heißt das irdische, sinnliche Leben für gut und auf seine Weise sinnvoll.
Aber nicht nur der irdische Körper muß angemessen ernährt werden. Auch die feiner gewebten, höheren Aspekte des Menschen, seine Seelenleiber, brauchen die ihnen gemäße Nahrung, andernfalls verkümmern sie und sterben eines jämmerlichen Todes.
Ein Mensch kann gut genährt und, mit dem satten Glanz kurzzeitig befriedigter Gier in den Augen, fröhlich durch sein Leben spazieren und dennoch, in seinem Inneren, eines einsamen Hungertodes sterben. Je verwahrloster, kraftloser und ausgemergelter unser innerer Mensch ist, desto getriebener und sinnentleerter, wird unser äußeres Treiben. "Die ersehnte unbekannte Nahrung", heißt es in der Verwandlung. Sie ist es, die uns nicht zur Ruhe kommen läßt. Das himmlische Manna läßt sich nicht durch irdisches Brot ersetzen. Etwas fehlt. Das ist es, was Kafka unaufhörlich, in seinem schriftlichen Werk, verdeutlicht. Etwas fehlt immer. In uns ist ein unaufhörliches Sehnen. Und diesem Sehnen gibt er eine Stimme. Sie ist der Quell der Traurigkeit, die mal leiser, mal lauter, in alle Schriften Kafkas gegenwärtig ist. Traurigkeit ist Trauer. Die Trauer der Seele um den Zustand, den sie einst besessen hat. Die Erinnerung daran klingt in ihr nach. Wenn auch manchmal nur durch den leisen Seufzer einer nicht zu deutenden Ahnung.
Schreiben und Traum fließen bei Kafka unaufhörlich ineinander; der eine ist des anderen verborgener Quell. Schreiben, als 'die Darstellung des traumhaften inneren Lebens', heißt es im Tagebuch. Und, ebenfalls dort festgehalten, spricht er davon, daß 'die Kraft seiner Träume schon ins Wachsein vor dem Einschlafen' strahlte und er sich, in diesem Zwischenbereich, seiner dichterischen Fähigkeiten vollständig bewußt sei: "Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben, was ich nur will." Aus dem, nur Fragment gebliebenem, Bericht, den Kafka über sein Treffen mit Rudolf Steiner, in seinem Tagebuch festhält, geht hervor, daß er während seines Schreibens Zustände erlebte, die den von Steiner beschriebenen hellseherischen Zuständen sehr nahe stehen.
Der Krebs-Sonnen-Thematik, wird der am 3. Juli geborene Franz Kafka, vor allem durch sein Schreiben gerecht werden. Der Bereich des Seelischen, die passiv-weibliche Mondensphäre, bildet den Raum, in den er sich zum Schreiben von der äußeren Welt in sich selber zurückzieht. Wasser, Seele, das Weibliche, das Aufnehmende, Durchlässige und des Durch-sich-hindurchscheinenlassen sind durch silbrig seidene Fäden untrennbar miteinander verwoben. Das Mondische ist das in sich aufnehmende, nährende Prinzip. Darin wächst etwas heran, was größer ist als es selber, dem es sich unterordnet und die eigenen Belange opfert, sofern es sich bereits in einem geläuterten Zustand befindet. Schreiben heißt: Sich gänzlich durchlässig machen, in sich aufnehmen und empfangen. Der Prozess des Schreibens ist eng verknüpft mit der Schwangerschaftsthematik, die, durch das männliche Feuer der Kreativität entfacht, auf der weiblichen Gefühls-und-Seelenebene erfahren und vollzogen wird. "Geschichten waren ja seine Kinder", schreibt Max Brod über den Freund Franz Kafka. Und in einem Brief an Brod erklärt Kafka den Prozess des Schreibens als höher stehend, gegenüber dem fertigen Werk. Ist das Kind erst einmal geboren, interessiert sich Kafka nur in wenigen Fällen für dessen weiteren Schicksalsverlauf. Ihm gelingt, wozu die Frau, auf der irdischen Stufe, nur im seltenen Ausnahmefall fähig ist: Er nabelt seine Kopfgeburten vollständig von sich selber ab. Er läßt los. Denn er weiß, daß er als Schriftsteller, dem weiblichen Prinzip entsprechend, einzig und allein Form gibt. Wie eine Amme nährt und hütet er das ihm überantwortete Wesen, bis dieses vollständig ausgebildet ist, und er wieder von seiner Verantwortung entbunden wird. "Man muß ins Dunkel hineinschreiben wie in einen Tunnel", stellte Kafka fest und Max Brod berichtet: "Wo sich ihm der Genius nicht willig darbot, brach er ab. Er wartete immer, wie Pygmalion, auf den Moment, in dem seine Figuren lebendig werden und ihr eigenes Leben selbstständig weiterführen würden. Er ließ sich überraschen. Trat dieser Moment nicht ein, so blieb das Geschriebene als Bruchstück liegen. Daher die Fülle von Fagmenten in seinen Tagebüchern und sonstigen Aufzeichnungen." Am Ende wird Kafka das Schicksal seines gesamten künstlerischen Werkes in die Hände des liebenden Freundes und nahsten Gefährten, Max Brod, legen, der dem Freunde den größten Dienst eben dadurch erweist, daß er gegen Kafkas letzten Willen handelt und nicht wie angeordnet, bis auf eine von Kafka bestimmte, kleine Auswahl an Werken alle Schriftstücke dem Feuer übergibt, sondern sich des kafkaschen Oeuvres, wie ein fürsorglicher Ziehvater, annehmen wird.
Der Brief an den Vater: "Mein Schreiben handelt von Dir, ich klage dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur daß er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief."
Im Alter von 36 Jahren, fünf Jahre vor seinem Tode, schreibt Kafka, seinen 'Brief an den Vater'. Im Original umfaßt dieser über einhundert handgeschriebene Seiten. Der Vater wird diesen Brief niemals lesen, denn er wird ihn niemals überreicht werden.
In den Aphorismen schreibt Kafka: "Das Wort 'sein' bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihmgehören." Dieses 'Ihmgehören', ist der Quell, aus dem alles, was mit dem Bild des Vaters im Verbund steht, entspringt. 'Ihm', das ist das Ur-Bild des Vaters, jene mächtige Präsenz, die bei Kafka hinter jeder Autorität, jeder Macht und jedem Mächtigen, dem Richter und Gericht, der Strafe und dem Bestrafendem, dem Befehl und Befehlendem steht. 'Ihm' ist etwas Ungreifbares, ein Ur-Bild, ein in die Seele eingebranntes Bild. Es ist ein Vor-bild. Das, was vor dem Bild kommt und aus diesem Voraus durch das Bild hindurch wirksam wird. Im irdischen Vater findet es seine Vergrobstofflichung. Hier tritt es, stark vereinfacht, als Hermann Kafka, Franzens autoritärem, jähzornigen, rechthaberischen und uneinsichtigen Vater, in Erscheinung. Dem Sohn eines Fleischhauers. Kein gebildeter, dafür ein umso zäherer, lebenstüchtiger Bursche, der sich aus eigener Kraft aus einfachen Verhältnissen emporarbeitet. Zeit seines Lebens wird der Sohn sich nach Lob, Bestätigung und Anerkennung des Vaters sehnen. Erhalten wird er sie nicht.
In den Kindern begegnen die Eltern ihrem Schatten. Die verdrängten Schattenaspekte des Vaters und die der Mutter fließen im Verbund, zu einer neuen Einheit, im Kinde zusammen. Franz Kafkas väterliche Linie zeichnet sich durch Stärke und Robustheit, einem Lebens-, Geschäfts- und Eroberungswillen aus. Mütterlicherseits entstammt er den Löwys, seltsamen, scheuen, stillen Menschen. In Kafkas Tagebuch finden sich Notizen über seine Vorfahren von der Seite der Mutter, die klingen, als wären sie alten chassidischen Legenden entnommen. Vom Großvater mütterlicherseits, wird Kafka seinen hebräischen Namen, Amschel, bekommen. Dieser Großvater Amschel war ein frommer und gelehrter Mann. Noch gelehrter war jedoch der Urgroßvater. Er stand bei Christen und Juden in gleichhohem Ansehen. Bei einer Feuersbrunst geschah infolge seiner Frömmigkeit, das Wunder, daß das Feuer sein Haus übersprang und verschonte, während die Häuser in der Runde verbrannten. In seinen späteren Lebensjahren wird es vor allem der Chassidismus, jene geheimnisvolle, mystisch ausgeprägte Strömung des Judentums sein, die Kafka in ihren Bann zieht und ihm erlaubt, sich mit dem, wie er es nennt, 'vom Vater an ihn weitergereichte Nichts von Judentum', welches aus sinnentleerten Bräuchen bestand, zu versöhnen.
Hermann Kafka wird zur Projektionsfläche. An ihm lebt Kafka das gewaltige Drama ab, daß sich in seinem Inneren vollzieht. Kafka, der Protagonist, braucht seinen Vater als Verkörperung der antagonistischen Kräfte, die den zu überwindenden Mangel sichtbar werden lassen. Deshalb spielt es letztendlich auch keine Rolle, daß der Vater den vom Sohn verfaßten Brief gigantischen Ausmaßes niemals persönlich gelesen hat.
Geht die Psychoanalyse davon aus, daß das Vaterbild jener Quell ist, aus dem der Mensch seine Vorstellung von Gott schöpft, so scheint es ebenso möglich, daß das tief in der Seele sich vollziehende Erfahren Gottes das Vaterbild eines Menschen bestimmt. Die Seele Kafkas ist noch vollständig vom Gott des Alten Testamentes beherrscht. Dieser ist ein starker und eifersüchtiger Gott, dem die saturninen Attribute wie Ordnung, Gerechtigkeit und Strenge zugeordnet werden. Im Außen tritt nun der irdische Vater, als ein übergroßes Bild, eine überlebensgroße Macht, der eben zu jenen Eigenschaften der Strenge, der Härte, des Gesetzes und der Ordnung, eine Analogie bildet, dem Sohn gegenüber. Und eben dadurch wird dem Sohn, Franz Kafka, der Mangel an ausgleichenden Attributen bewußt, die einander, wie die Barmherzigkeit der Härte, gegenüberstehen. Mangel erzeugt Sehnsucht und diese Sehnsucht läßt den Menschen eines Tages innehalten, umkehren und seinen wahren Heimweg antreten.
"Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir!" Der Mythos des verlorenen Sohnes webt sich durch das Leben und das Werk Franz Kafkas. Dieser Sohn hält sich für einen aus dem Hause seines Vaters Verstoßenen. Doch er weiß bereits, daß seine einzige Versündigung die der Absonderung ist. Die Abkehr von Gott. Bei Kafka geht es immer wieder um Schuld, Sünde und Sühne. Unschuldig ist keiner der Angeklagten. Es sind Abgesonderte, Lieblose, seelisch Abgemagerte, die Kafka in seinen Schriften hinrichten, oder sich selber dem Tode übergeben läßt. "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns," heißt es bei Kafka. Das innere, gefrorene Meer, diese analytische Verstandeskälte, hat er ein Leben lang in sich selber bekämpft. Als Axt diente ihm das Schreibzeug, das Papier wurde zum Spiegel. "Wenn auch keine Erlösung kommt", schrieb er, "so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein."



Quellen: Die Arbeit basiert auf Max Brods Schriften über Franz Kafka und Kafkas eigenen Schriften.

'Franz Kafka / Eine Biographie' - von Max Brod
'Franz Kafkas Glauben und Lehre' - von Max Brod
'Verzweiflung und Erlösung im Werke Franz Kafkas' - von Max Brod
'Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg' - Franz Kafka
Die Tagebücher und Briefe Franz Kafkas
'Prüfungen/Schriften zur Literatur' - von Klaus Mann
'Franz Kafka: Die Verwandlung / Ein Kommentar' - von Vladimir Nabokov




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