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Der Gefallene Engel - Gedanken zu Paradise Lost von John Milton
essay [ ]
oder: Das große Epos vom Apfelessen

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by [BettinaKatalin ]

2017-08-03  | [This text should be read in deutsch]    | 



John Miltons Paradise Lost ist das große Menschheitsepos, welches die Geschichte des Sündenfalls nacherzählt. Da wir alle die Sündenfallgeschichte bereits kennen, ist der Inhalt des Verlorenen Paradieses schnell zusammengefasst:

-Samt seinem Gefolge wird der strahlendste aller Engel aus dem Gottesreich verstoßen und in die äußersten Tiefen verbannt.
-Gott erschafft die Erdenwelt und mit ihr, als Krone der Schöpfung, das erste Menschenpaar, Adam und Eva.
-Adam und Eva obliegt die Verantwortung über den Garten Eden. Alles dürfen sie tun, nur nicht vom Baum der Erkenntnis kosten.
-Satan erfährt von diesem Verbot und schleicht sich in das Paradies, um Eva zu verführen.
-Natürlich lässt sich Eva verführen und kostet von der verbotenen Frucht und auch Adam isst von dieser.
-Es folgt die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies.
-Das Paradies, so scheint es, ist für immer verloren.

Allerdings finden sich in Miltons Nacherzählung des Sündenfalls entscheidende Wendungen und Hervorhebungen im Verlauf der Geschichte.
Milton setzt Eva gleich zwei Mal der Versuchung durch Satan aus. Als Satan sich das erste Mal in den Paradiesgarten einschleicht, ist es Nacht und er findet Eva schlafend vor. Nach Miltons Beschreibung, kauert Satan gleich einer Kröte neben der Schlafenden und versucht sie durch Einflüsterungen zur Sünde zu verführen. Am nächsten Morgen, erzählt Eva Adam von ihrem Traum, woraufhin Gott den Erzengel Raphael ins Paradies sendet. Der Erzengel warnt Adam und erzählt ihm von Satans Rebellion und der Verbannung der aufständischen Engel aus dem Himmelsreich.
Satan bricht ein zweites Mal in das Paradies ein und verführt Eva schließlich dazu, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Ohne sich recht über das Geschehen bewusst zu sein, fällt Eva in Sünde. Anders jedoch ist es bei Adam. Als Eva, mit der von ihr bereits gekosteten Sündenfrucht zu Adam eilt, weiß dieser sehr wohl um die Konsequenz. Durch den Himmelsboten Raphael ist Adam unmittelbar mit dem Himmelswissen verbunden, wohingegen Eva den nächtlichen Einflüsterungen Satans in ihrem Handeln folgt.
Adam ist sich der Konsequenzen bewusst und ebenso bewusst entscheidet er, Eva in und durch die Sünde hindurch zu folgen. Milton lässt Adam aus Liebe zu Eva von der verbotenen Erkenntnisfrucht essen, damit ihre beiden Schicksale wieder aneinandergebunden werden und die verlorene, ursprüngliche Einheit eines Tages erneut wiedererlangt werden kann.
Die Liebe, die hier gemeint ist, nämlich Liebe verbündet mit wahrem, mit göttlichem Willen, ergibt das Augustinuswort: "Liebe und tue, was du willst". Es ist eine bewusste Liebe innerhalb heiliger Selbstverständlichkeit.
Für Milton, der besessen war vom Gedanken der Freiheit, ist dies der Schlüssel, der allein aus der Enge und Gefangenschaft menschlichen Daseins erneut hinaus- und rückführen kann. Und in Miltons Verlorenem Paradies erfahren wir, dass dieser Schlüssel sich seit Anbeginn in unserem Besitz befindet. Das menschliche Dasein beginnt in der Schuld, doch in dieser anfänglichen Verschuldung liegt auch schon der Weg aus ihr hinaus. Im Anfang liegt bereits das Ende beschlossen. Und dies gilt sowohl für den Verlauf der Sündenfallgeschichte, wie auch für das epische Werk selbst, denn das Epos, wie auch der Mythos, schreiben sich von ihrem Ende her zum Anfang zurück.
In einem Epos geschieht nichts ohne Grund, er ist durchkomponiert. Alles in ihm ist Sinnbild und Gleichnis in höchster Konzentration. Jede Veränderung von Ort, Zeit und Handlung macht darauf aufmerksam, dass sich eine wesentliche Wendung vollzieht.
Zwischen der ersten und zweiten Verführung Evas, findet bereits eine Wandlung statt. Der erste nächtliche Einbruch Satans in die umschlossene Einheit des Paradieses löst diese Entwicklung aus.
Das Paradies selbst, also der Ort des Geschehens verwandelt sich und natürlicherweise dadurch auch alles, was dieser Ort beinhaltet. Doch wofür genau steht eigentlich das Bild des Paradieses? Das Paradies wissen wir, ist ein Königsgarten, ein Garten Gottes. Führt man das Wort bis zu seiner ursprünglichen Wurzel zurück, bedeutet es wörtlich „umgrenzter Bereich“. Es ist also dasselbe Bild, das auch durch das Wort Tempel beschrieben wird. Ein herausgeschnittener und abgegrenzter Raum. Und das sind per Definition die Eigenschaften, durch die sich ein heiliger Ort auszeichnet.
Dazu Ernst Cassirer: „Die Heiligung beginnt damit, dass aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird.“
Durch die Heiligung eines Raumes, wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich die ursprüngliche Ordnung erneut manifestieren und in Erscheinung treten kann. Indem Satan sich in den Paradiesgarten einschleicht, durchbricht er eine ihm klar gesetzte Grenze und stört die darin sich offenbarende Gottesordnung.
In der Handlung spiegelt sich das Wesen des Handelnden. Satan ist eine Art Grenzfigur, die sich von ihrem zugewiesenen Platz innerhalb kosmischer Hierarchie erhebt und aus der gottgesetzten Ordnung ausbricht. Damit wird Satan zum Gegenspieler der ordnenden Kräfte, zu einer Verkörperung jener chaotischen Gewalt, die immer fort versucht, die ihr gesetzten Grenzen zu überschreiten, die Ordnung zu stören und niederzureißen, jedoch auch immer wieder selbst in den eigenen Wirkbereich zurückgeworfen wird.
Das biblische Motiv von Chaos und Ordnung beschreibt einen Vorgang der Neuschöpfung — einen Ebenenwechsel. „Und es wurde Abend und es wurde Morgen“, lautet diese Formel in der Genesis. Zuerst Unbewusstheit, Finsternis, Chaos, Nachtdunkel. Dann erneut Licht, Neuordnung, Tag und Erhellung.
Milton sieht im Schöpfungsakt kein lineares Ereignis. Für ihn sind Rückkehr und Wiederholung bereits im Anfang enthalten. Die Schöpfung ist kein abgeschlossener Vorgang, sie vollzieht sich, unaufhörlich. Oder treffender: Der ursprüngliche Schöpfungsakt wiederholt sich. Jede Tat ist für Milton ein schöpferischer Akt und der Schöpfungsakt seinem Wesen nach ein Akt der Wiederholung.
Im Grunde ist mit dem Höllensturz ein Umsturz gemeint, bei dem sich der Himmel in sein gegenteiliges Spiegelbild verkehrt. Im Sündenfall Adams und Evas spiegelt sich der Sturz des ursprünglich höchsten Engel Gottes, dem glanzvollen und prächtigen Luzifer. Erst durch Luzifers Sturz aus den Himmelshöhen in die äußersten Tiefen, wird die Hölle überhaupt erschaffen, sie wird durch den Gefallenen selbst gebildet oder treffender, durch ihn erbaut.
Wie bereits der Titel deutlich mach, geht es im Verlorenen Paradies zu allererst um Verlust. Es ist der Verlust des ursprünglichen Wesens, von dem uns hier erzählt wird.
Aus dem luziferischen Lichtträger wird der Gegenspieler. Im Höllensturz geht seinem Namen die Schlußsilbe –el verloren. Aus Satanael wird Satan. Die El-Endung steht für das göttliche Wesen, den göttlichen Anteil. Namensverlust ist Wesensverlust. Nach dem Sturz hat der gefallene Engel seinen Glanz verloren — oder vielleicht treffender: Seine einst funkelnd lichte Strahlkraft wurde in finsteren Glanz verkehrt, ein verdunkeltes Licht, eine Art schwarzer Diamant.
Glanz steht für Bewusstheit. Und dieses einst strahlende Gottesbewusstsein stürzt hinab zum bodenlosen Abgrund und findet sich nun in dichter Finsternis, eingeschlossen durch „Flammen denen kein Licht entstrahlt, sondern nur eine sichtbare, finstre Nacht“.
Als „trostloser Ort der Ödnis und Leere“ wird das Chaosdunkel in John Miltons Epos beschrieben. Doch Ort bedeutet hier Zustand. Satan selbst verkörpert den Zustand der Trostlosigkeit, der Ödnis und Leere. Das von Milton beschriebene Chaos bestimmt sich gerade durch seine Unbestimmtheit. Es ist bodenlos, grenzenlos, unendlich, undurchdringbar. Ordnung beinhaltet immer eine klare Umgrenzung und deutliche Bestimmung. Chaos jedoch ist unbestimmt und vor allem anderen ungebunden, man könnte auch sagen, unangebunden, daher wähnt es sich frei.
Eben in dieser Unbestimmtheit ist die Chaoskraft am furchtbarsten und am bedrohlichsten, denn diese negierende Kraft ist nicht nur eine zerstörerische Kraft, sondern eine auslöschende Macht. Das, was zerstört wird, kann aus den Trümmern in neuer Form errichtet werden. Im Grunde ist Zerstörung lediglich ein Teil des Wandlungsprozesses. Doch wenn etwas ausgelöscht wird, ist es ganz so, als wäre es niemals gewesen.
Im Kontext des Verlorenen Paradieses geht es um die Auslöschung des Lichtes, der Bewusstheit, des Wissens, der Erinnerung. Und demnach meint Auslöschen hier: Vergessen — eine Vergessenheit, die gleichzusetzen ist mit ewigem Tod.
Die Chaoshölle, die hier beschrieben wird, ist Gottvergessenheit, ein Exil äußerster Gottesferne und Bannungsstätte der Abtrünnigen und Namenlosen, der Wesenslosen und Gestaltlosen — der Unbestimmten und Erlöschten.
Verlust und Vergessen sind in gleicherweise miteinander verbunden, wie die Wiederholung und das Erinnern. Das Epos will erinnern. Seinem Wesen nach ist es Nacherzählung und Wiedererinnerung. Ursprünglich wurden Epen mündlich verbreitet und dazu von den Epensängern auswendiggelernt. Allerdings sollte man hier treffender von einem inwendigen Lernen sprechen, denn die Bildabfolge der epischen Erzählung wurde soweit verinnerlicht und zu Eigen gemacht, dass der Vortragende seine Zuhörer buchstäblich durch seine eigene Erinnerung und der damit verbundenen Bilderwelt führen konnte. „Das Epos wurde begleitet von den monotonen Klängen einer Leier vorgetragen und so könnte man vermuten, dass auch das gleichbleibende Versmaß nicht nur beim Lernen der Verse helfen sollte, sondern dass die Monotonie von Klang und Rede den gebannten Zuhörer in einen leichten Zustand der Trance führte und seine eigene innere Bilderwelt heraufbeschwor, in der das Gehörte zu seiner eigenen, selbst erfahrenen Erkenntnis werden konnte.“ (Vgl. Dr. Christoph Hönig, Der Sänger erzählt, Mündliche Poesie und Trance)
Im Schöpfungsepos wiederholt sich der ursprüngliche Schöpfungsakt, während der göttliche Ursprung erneut in die Erinnerung zurückgeholt wird. Auch in der Bibel sind Wiederholung und Erinnerung eng miteinander verknüpft, wobei beide im sakralen Zusammenhang des rituellen Gedenkens stehen. Rituelles Gedenken ist gegenwärtiger Nachvollzug, da das erneute Sich-Erinnern bereits Teil des Rituales selbst ist.
Satan verführt durch die Versuchung des Vergessens und bietet dafür eine Art der Scheinfreiheit. Dadurch, dass dem ursprünglichen Schöpfer nicht mehr gedacht wird, denkt sich die Schöpfung nun in ihrem eigenen Willen, ihrem Denken und Handeln, frei.

„Besser der Hölle Herr sein als des Himmels Sklave!“, hören wir Satan kurz nach seinem Sturz verkünden. Milton stattet seinen Satan mit allen Attributen eines klassischen Helden aus. Er ist mutig, stolz, kühn und stark. Er ist kämpferisch und hat einen scheinbar nicht zu brechenden Willen. Ein geborener Anführer, der in glühenden, leidenschaftlichen Worten seine Reden und Anklagen vorträgt. Kaum hat er sich von seinem Sturz erholt, ruft er auch schon sein Gefolge zusammen. Er erweckt sie buchstäblich mit seinem Ruf, da sich das Heer der mit ihm verbannten Engel wie betäubt in einem Pfuhl der Vergessenheit befindet.
Ist Satans Glanz auch verdunkelt, seine Kraft und Macht vermindert, so überstrahlt und überragt er die Legion der mit ihm gestürzten Engel noch immer um ein Vielfaches. Unter seinen Anweisungen wird sogleich inmitten der finsteren Ödnis das Pandämonium als Machtsitz der Hölle und Heimatstätte aller gefallenen Engel errichtet. Im höllischen Pandämonium erkennen wir das Zerrbild des himmlischen Jerusalems. Als mächtiger Herrschersitz ragt es so wuchtig wie bedrohlich aus dem wirbelndem Nichts des Chaosdunkels hervor. Glutende Lavaströme und tiefe Abgründe umgeben den Palast Satans im Kern der Hauptstadt. Der Höllenfürst regiert, befiehlt, errichtet und lässt erbauen.
In seiner Schöpfung wird immer auch der Schöpfer selbst erkennbar und so verwundert es nicht, das Miltons eigener rebellischer und von dem Gedanken der Freiheit leidenschaftlich besessener Geist, eben die Gestalt des gefallenen Engels zu seinem verführerischen Antihelden werden lässt, wofür er nur all zu oft kritisiert wurde. So schrieb William Blake: „Der Grund, weshalb Milton in Fesseln über Engel und Gott, und in Freiheit über Teufel und Hölle schreibt, ist, dass er ein wahrer Dichter und auf der Seite des Teufels war, ohne es zu wissen.“ Doch vielleicht, ist eben dieser Kritikpunkt der eigentliche Geniestreich von Miltons großem Epos, denn genau dadurch, dass er sich, wenigstens zu Anfang, scheinbar auf die Seite des Teufels stellt, macht er diesen auch zugänglich. Ja, mehr noch, er zeichnet ihn als nur zu menschlich in all seinem Denken, Sprechen und Handeln. Satan und Hölle, das sogenannte Böse, ist ein Zustand oder auch Zustandsraum, der mit unserem menschlichen Dasein auf engste verknüpft ist.
Milton führt aus der engen Sichtweise der mittelalterlichen Vorstellung und Darstellung vom Teufel als furchterregende Fratze mit glutroten Augen und umgeben von dampfendem Schwefel. Das groteske Ungeheuer mag ein Aspekt des Bösen sein, doch dieses Bild kann lediglich Angst einflößen. Es ist ein Kinderschreck und eine Drohgebärde, nicht aber ein Spiegel, in dem der Mensch sich selbst zu sehen lernt. Miltons gefallener Engel ist eben nicht das absolut Böse, sondern eine Vermischung aus Licht und Dunkel. Und so umgibt, wie bereits Baudelaire bemerkte, Miltons rußgeschwärzten Engel die Aura einer verfluchten Schönheit, die etwas leidenschaftlich Glühendes wie Trauriges zugleich besitzt — da sie das Wissen um das, was sie einst gewesen ist, in sich trägt. Dieser gestürzte Engel ist majestätisch auch in seiner Niederlage und personifiziert gerade jenen Wesenszug, an den Milton mit aller Kraft glaubte: Die Kraft des Heroischen.

Der Universalgelehrte John Milton (1608 – 1674) hat mit seinem verführerisch dunklen und rebellischen Engel keine neue Gestalt erschaffen. Miltons Satan übernimmt manch eine Eigenschaft des antiken Prometheus. Der Prometheus Mythos durchwebt Leben und Werk Miltons. Darüber hinaus wird es eben die uranäisch geprägte Zeit der Französischen Revolution (1789 - 1799) sein, in der Miltons Werk zu erneutem Einfluss kommt und die jungen promethischen Dichter und Schreiber der englischen Romantik (1780–1837), allen voran Lord Byron, Percy Shelley und Mary Shelley, werden ihr Schaffen ganz unter dem Signum von Miltons Satan-Prometheus stellen.
Doch ist es vor allem die rebellische, unbezwingbare und leidenschaftlich kühn-stolze Charakterseite des antiken Prometheus, die Milton in seinen Luzifer-Satan hineinarbeitet. Satans Rebellion ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt, der All-Eine Gott hat keinen Antagonisten; und dennoch muss sich Miltons kühner Heros gegen die gottgesetzte Ordnung empören und den Aufstand wagen.
Für den glühenden Revolutionäre Milton ist es die Vernunft, die die Gottebenbildlichkeit bestimmt. Vernunft jedoch ist Unterscheidungsvermögen und setzt daher die Möglichkeit zur Unterscheidung, die Freiheit entscheiden zu können, voraus.
So heißt es in Miltons Areopagitica, seinem Traktat für Rede- und Pressefreiheit: „Was nütze erzwungener Gehorsam? Sei nicht Sünde nötig, um Tugend zu lernen? Statt zu beklagen, dass die Vorsehung Adams Unbotmäßigkeit nicht verhindert habe, müsse die Christenheit endlich begreifen: Als Gott uns Vernunft gab, gab er uns die Freiheit, zu wählen. Wer aber die Mittel der Sünde verbiete, verhindere zugleich die Entfaltung der Tugend. Mit anderen Worten: Durch seine Fehlbarkeit erst wird der Mensch zum Menschen. Folglich darf das Gute nicht befohlen, sondern muss gewählt werden, kann die Wahrheit nicht angeordnet, sondern muss erkannt werden.“
Letztlich bleibt für Milton die äußere Unfreiheit ein Spiegelbild der inneren Abwendung des Menschen von Gott.
In der Gestalt des antiken Prometheus finden sich das himmlische und das irdische Wesen noch im engen Verbund miteinander. Im Verlorenen Paradies wird es aufgespalten und durch die Härte des Kontrastet hervorgehoben. Milton verschärft die Dunkelheit Satans, dessen Leidenschaft von glühendem Rachedurst, Vergeltungswunsch, blankem Hass und blinder Wut angefeuert wird. So, wie der Engel Satanael in die äußerste Tiefe des Abgrunds geworfen wird, wird auch seine Wesensnatur bis zum tiefsten Höllenkern aufgebrochen. Diese dichteste Dunkelheit ist die vollständige Verneinung. In Goethes Faust findet dieser Abstieg in die tiefste Tiefe innerhalb von vier Zeilen statt, wenn er Mephistopheles zu Faust sagen läßt:
„Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.“
Diese letzte Zeile, das „Besser wär’s, daß nichts entstünde“, ist nichts anderes als das Verlangen, die gesamte Schöpfung rückgängig zu machen, alles was erschaffen wurde zurückzunehmen — ganz so, als wäre es niemals gewesen. Der tiefste Höllenpunkt ist die absolute Negation der Sinnhaftigkeit. Weder kann der Sinn, noch kann das Gute in Gottes Schöpfung erkannt werden, die Augen sind lichtlos erblindet und sehen nur noch Dunkelheit und das Nichts.
Dieser Verfinsterung stellt Milton das siegreich strahlende Licht der Christusgestalt entgegen. „Auf dem Kriegsfeld finden Satan und Christus einander gegenüber, als Satan mit seinem Heer versucht, den Himmel selbst zu stürmen. Die Erzengel Michael und Gabriel wurden bereits von Gott entsandt, den Kampf gegen Satan und seine Engel anzuführen. Mit teuflischer Maschinerie kämpfen die abtrünnigen Engel Satans, gegen das göttliche Engelsheer und setzen ihnen erheblich zu.
Als dann am dritten Tag der Krieg noch immer währt, sendet Gott Christus, um den Krieg zu beenden. Mit der Vollmacht des Vaters gerüstet, erscheint der Gottes Sohn in seinem flammenden Feuerwagen auf dem Schlachtfeld und gebietet allen seinen Legionen zu beiden Seiten still zu stehen. In seinem flammenden Feuerwagen, treibt der Gottes Sohn, unter Donnerhall die rebellischen Engel aus dem Himmel hinab in die Hölle.
Sodann beauftragt Gott seinem eingeborenen Sohne, eine neue Welt und Schöpfung an eben jenem Ort zu erschaffen, an dem zuvor die nun gestürzten Engel ihren Platz in der Ordnung hatten. Diese neue Welt befindet sich genau zwischen Himmel und Hölle und die neue Schöpfung, der Mensch, ebenso.
Nachdem Adam und Eva von der verbotenen Frucht gegessen haben, kehren die Wächter des Höllentores, Satans Tochter, die Sünde und Satans Sohn, der Tod, den er mit der Sünde gezeugt hat, auf der Welt ein.
Gott sendet seinen Erzengel Michael, in Begleitung der Cherubim zu den sündig gewordenen Menschen, um sie aus dem Paradies zu vertreiben. Als Trost lässt der Erzengel Michael Adam die Zukunft schauen. Diese Visionen umfassen das Geschehen bis zur Sintflut und dann den neuen Bund zwischen Gott und Mensch bis hin zum großen Erlösungswerk Christi, dem sich ein Ausblick auf das Jüngste Gericht anschließt. Der durch diese Zukunftsschau getröstete Adam, weckt die schlafende Eva, der gleichfalls ein glücklicher Traum geschenkt wurde. Dann müssen sie aufbrechen.“ (Vgl. Carl Busse)
Innerhalb der letzten Gesänge des Epos, entschwindet Satan, der anfängliche Protagonist des Werkes, vollständig aus dem Geschehen. Der Gottes Sohn, doch vor allem Adam, werden immer mehr zum Mittelpunkt der Erzählung. Satan, der kriegerische, draufgängerische und unerschrockene Antihelden, weicht zugunsten der Gestalt des gefallenen Menschen und dessen bereitwilliger Annahme seiner Schuld.

Obwohl Milton sich bereits in frühster Jugend dazu bestimmt und berufen fühlt, einen gewaltigen Epos zu schreiben, wird ihm diese Bestimmung erst zum Ende seines Lebens zuteil kommen. Vollständig erblindet, wird er sein Werk diktieren müssen. Hinter ihm liegen allerlei politische Verstrickungen, Machtkämpfe, Exil, Inhaftierung und Isolation; ein Leben prall gefüllt mit Siegen, Niederlagen und Schicksalsschlägen.
Paradise Lost steht ganz in der Tradition epischer Dichtung und wie unter anderen Homer, Dante oder Shakespeare beginnt auch Milton sein Epos mit der Anrufung der Himmelsmuse und der Bitte an sie, sein Werk zu weihen, um sich sogleich als Verkünder und Sprachrohr Göttlichen Geistes verstehen zu geben.
Und so heißt es bei Milton:

Vor Allem du beseele mich, o Geist,
Der offne Herzen mehr als Tempel liebt:
Du bist allwissend, warst vom Anbeginn
Und ruhtest brütend einer Taube gleich
Mit mächtig ausgespreiztem Flügelpaar,
Den ungeheuern Abgrund fruchtbar machend.

Was in mir dunkel ist, erleuchte du,
Was in mir niedrig, heb' und stütze du;
Daß ich gemäß dem hohen Gegenstand
Die Wege Gottes zu den Menschen preisend
Die ewige Vorsehung vertheid'gen mag.

O sprich zuerst – denn Nichts verbirgt der Himmel,
Die tiefe Hölle Nichts vor deinem Blick –




Quellenverzeichnis:
-John Milton, Das verlorene Paradies
Entstanden 1658–1663. Hier nach der Übers. v. Adolf Böttger. Originaltitel: Paradise Lost
-Katharina Maier, Vorwort „Das verlorene Paradies“
-John Milton: Areopagitica: A Speech of Mr. John Milton for the Liberty of Unlicens'd Printing. To the Parlament of England
-William Blake, The Marriage of Heaven and Hell
- Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Band II: Das mythische Denken
- Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel, Die schwarze Romantik
-Charles Baudelaire, Intime Tagebücher, Bildnisse und Zeichnungen (Journaux intimes)
-Regina M. Schwartz, Remembering and Repeating, Biblical Creation in Paradise Lost
-Johann Wolfgang von Goethe, Faust: Eine Tragödie
-Busse Carl, Geschichte der Weltliteratur
-Dr. Christoph Hönig, Der Sänger erzählt. Mündliche Poesie und Trance, Gastvortrag / Humboldt-Gesellschaft


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